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VENEZIANISCHE FRAGMENTE, Matthias von Gunten

Die Stille: man ist in einer Stadt und wacht auf und wähnt sich im Urwald, da man kein einziges Auto hört sondern nur Vogelrufe, die weit hallen und einen grossen Raum öffnen, ehe man aus dem Fenster geschaut hat. Die Möwen verleiden auch nach Tagen und Wochen nicht, obwohl sie alles übertönen, auch die Schwalben und Tauben, obwohl sie immer die gleichen etwa drei Laute von sich geben. Am markantesten das abgehackte Klagen mit lang ausgestrecktem Hals und dem Schnabel in die Luft, als gälte es, etwas ganz Dringendes oder Alarmierendes zu verkünden, dabei ist es wahrscheinlich nur eine Mitteilung an die Artgenossen, dass man jetzt gerade hier sei, was diese zu einer Art Kettenreaktion von Antworten verleitet, die ebenso dramatisch klingen und in ein einzigartiges Morgenkonzert münden. Dass ich die Möwen so stark wahrnehme, liegt in Wirklichkeit an der Stille dieser Stadt, wo der Dauerreiz des Verkehrslärms entfällt und wo man sogar die Schritte der Passanten auf dem Plätzchen vor der Wohnung hört, eine Stille, die den ersten Eindruck, nein meine ganzen sechs Monate prägt, die alles unmerklich in ein Geheimnis taucht und kleinste Begebenheiten als etwas Besonderes erscheinen lässt. Wie werde ich in Zürich ohne diese Stille leben?

Die Langsamkeit: Welches Glück, dass es in Venedig die Kanäle und die Brücklein gibt, dass selbst Fahrradfahren in den Gässlein verboten ist und dass es fast nirgendwo Uhren zu sehen gibt. Eile und Terminstress sind fast unmöglich, alles geschieht zwangsläufig nach einem normalen, menschlichen Rhythmus, nicht etwa Schlendrian, aber so wie es sich etwa mit Gehen ergibt, ohne jede Möglichkeit zu beschleunigen. Dieses ,normale' Tempo legt sich rasch über den eigenen Körper, man muss es nicht lernen, es geht ins Blut und die Nervenbahnen und auf einmal merkt man, dass man ganz ohne Absicht, Plan und fortschrittliche Theorie von alleine so lebt, wie es in der hektischen Welt nur als abstraktes Modewort existiert: Entschleunigung. Und man merkt auch: das möchte man nicht mehr ablegen.

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