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Venedig – Heimat auf Zeit

Was tut man in einer Stadt in der man von so vielen Meisterwerken umgeben ist, die man entweder nicht übersehen kann oder „gesehen haben muss"? Das hängt von der Zeit ab. Wenn sie touristisch knapp bemessen ist, d. h. wenn man die Tage zählen muss, „eilt" man (das ist in Venedig nur schwer möglich) von Kultort zu Kultort, fährt die berühmtesten Kanäle ab und schafft es vielleicht bis zum Lido oder bis nach Murano oder Torcello. Von einem bestimmten Punkt der Übersättigung an flimmern die Augen wie die Spiegelungen im Wasser. Man kann nichts Neues mehr aufnehmen und flieht an einen Ort, den "jedermann" kennt. Dort schaut man zu, wie Fremde knipsen, Tauben füttern, ebenfalls erschöpft am Tisch sitzen und an einem Glas nippen. Man ist vom Staunen befreit, obwohl man auch hier von Meisterwerken umgeben ist. Man schaut auf die Uhr und erschrickt, wie spät es geworden ist. Das "Programm" war schon wieder zu dicht. Die Müdigkeit stimmt in den Verzicht ein.

Wenn man aber die Tage nicht zählen muss, wird alles anders. Man lebt sich allmählich in einen anderen Umgang mit der Zeit ein: Alle Wege und Besorgungen brauchen eben viel Zeit. Die Langsamkeit ist in Venedig nicht eine nostalgische Wiederentdeckung, sondern das Ergebnis der besonderen geographischen Lage und einer jahrhundertealten Kultur. Nichts Wichtiges hat man mit einem Mal gesehen. Denn der Reichtum der architektonischen und bildnerischen Gestaltung geht vom Grossen bis ins Kleinste. Deshalb heisst Schauen in Venedig immer auch Entdecken, Entdecken auch des unscheinbaren, zufälligen und unerwarteten Schönen. Nichts hat man endgültig verpasst, wenn man es nicht gleich heute sieht. Denn das Sehenswerte ist alt, immobil und geduldig, und es wartet, bis man Zeit findet.

Das Zeitgefühl spricht so für die Langsamkeit, für die Wiederholung, für die Geduld und die Neugierde des Sehens. Sie sind die Weisen, wie man Venedig erkunden sollte. Die Moderne hat uns diesen Tugenden entfremdet. Denn die Zeitmessung sagt, dass wir mit ihnen Zeit verlieren. Die Zeiterfahrung aber sagt, dass wir mit ihnen Zeit gewinnen, die wir als Geduld für das Alltägliche und als Offenheit für das Unerwartete erleben.

Die Forberg-Stiftung hat es mir ermöglicht, Venedig, das ich als Tourist einigermassen zu kennen glaubte, erst allmählich zu entdecken. Viele Wege ging ich in den unterschiedlichen Varianten so oft – zum Beispiel zum Markt oder an die Zattere -, dass ich sie mir noch heute vergegenwärtigen kann. Die “Gewohnheit“, sie zu gehen, wurde erst möglich durch das Wohnen in Venedig, und zwar nicht irgendwo, sondern in der grossen und vornehm nüchternen Beletage des Palazzo Castelforte hinter der Scuola Grande di San Rocco, in der es Raum und Ausstattungen für alle klassischen Künste gibt. Hier war jeder Tag kostbar. Wenn man reisen “musste“, z. B. nach Basel oder Berlin, kehrte man so schnell wie möglich zurück, als ob man allein in Venedig zu Hause wäre und nur dort richtig arbeiten und richtig die Welt entdecken könnte. Ist das nicht seltsam? Venedig ist doch beinahe eine Weltenklave, ein Anachronismus, eine Zeitinsel, ein Souvenir an entlegene und bessere Zeiten – und soll Heimat auf Zeit, die sich in der Erinnerung dann vervielfacht, sein? Ja, das ist seltsam. Aber so war es.


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