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Gast in der Atelierwohnung der Fondazione Castelforte in Venedig
Bericht an die Elisabeth Forberg Stiftung



Dezember 2020 bis Mai 2021, Alice Schmid

Die Einladung für sechs Monate Venedig als Artist in Residenz erscheint mir wie ein Traum. Mein neuster Film Burning Memories ist eben fertiggestellt, und ich plane im Winter 20/21 meinen zweiten Roman zu schreiben. Da kommt dieser überraschende Brief von der «forbergstiftung» mit der Einladung nach Venedig.
Ich reise im Dezember 2020 voller Enthusiasmus los, mit zwei schweren Koffern. Der eine vollgestopft mit meinen Tagebüchern aus den 60er Jahren, Notizen, Büchern, Material zum Schreiben. Auch nehme ich mir vor, mein Italienisch mit Konversation aufzubessern und wieder Klavierunterricht zu nehmen, habe ich doch in den Unterlagen der Stiftung gelesen, dass im Palazzo Castelforte ein Flügel steht.
Im ersten Monat schreibe ich jeden Tag eine Seite. Die Wohnung dazu ist ideal. Leere Wände, leere Räume, Tische zum Schieben. Seltsam ist nur die Stille vor den Fenstern. Von Konversation halten keine Spur. Ich bin in einem gespenstisch stillen Venedig gelandet. Die Museen, die Restaurants, alles zu. Die Rollläden der Geschäfte bleiben für Wochen unten. Militär und Polizei kontrollieren auf den Campos, in den Gassen, in den Vaporettos. Kein Schritt ohne Maske. Gemäss Zona rossa darf ich nur einmal am Tag das Haus verlassen. Spazieren ist nicht erlaubt. Schon gar nicht über das Quartier hinaus. Meine ersten Ausflüge führen mich zum Fischmarkt auf dem Campo Margherita, weiter zum Gemüseschiff beim Campo San Barnaba, zurück zur Bäckerei Majer, manchmal zur kleinen Metzgerei vor der Carminikirche. Bis ich mich orientieren kann, dauert es. Unterwegs ein Capuccino trinken bleibt ein Wunsch, darauf muss ich noch lange warten.
Die Stille und aussergewöhnliche Situation kommen mir jedoch gelegen. Ich schreibe Seite um Seite, und am späten Nachmittag mache ich meine Einkäufe zum Leben. Unterwegs begegne ich wenigen Menschen, höre nur italienisch, keine fremde Sprache, es scheint als wäre ich die einzige Ausländerin in dieser Stadt.
Im zweiten Monat schicke ich die ersten Seiten zum Lesen meinem Verlag. «Wir sind begeistert», lautet das Feedback. Ich schreibe weiter und dehne jedoch meine Spaziergänge aus, beginne mich in Venedig zurechtzufinden, und heimlich fotografiere ich, drücke jedoch nur ab, wenn kein Polizist in Sichtweite ist, riskieren will ich nichts. Zum Glück habe ich vor meiner Abreise das neuste iPhone mit den drei Linsen gekauft und realisiere, es macht super Bilder. Enrica, die für die Wohnung zuständig ist, warnt mich zur Vorsicht. Sie betont immer wieder, spazieren ist nur im Quartier erlaubt.
Einmal schreckt mich ein Erdbeben auf. Mitten im Schreiben schwankt mein Stuhl, mein Tisch, ein Quietschen, ein Ächzen geht durch dem Palazzo, über eine Minute lang. Ich stelle mich zum Schutz unter den Türrahmen. Die Schnüre an den Vorhängen baumeln noch lange hin und her. Im Internet lese ich, das Erdbeben der Stärke 6.3 hat vor allem Kroatien getroffen.
Als die Hochwassersirenen von Stufe 1 bis 4 heulen, zieht es mich über San Polo hinaus. Mit einer Brottüte von Majer in der Hand, als wäre ich am Lebensmittel einkaufen, wage ich es bis zur Rialtobrücke und weiter zur weltberühmten Basilika. Der Markusplatz steht unter Wasser. Die Sonne scheint, kein Polizist, kein Tourist. Wieder ein Bild.



Beim Downloaden auf den Laptop realisiere ich die Qualität meines neuen iPhones. Ich bin kaum mehr zu halten. Ich schreibe zwar am Vormittag weiter an meinem Roman, am Nachmittag wage ich mich mit meinem Brotsack immer mehr in die fünf Quartiere hinaus. Irgendwann beginne ich meine Erlebnisse zu filmen. Da sitzt zB ein alter Venezianer auf den Stufen eines marmornen Ziehbrunnens und starrt vor sich hin über den leeren Campo, wo sonst Touristenströme vorbeiziehen. Im spiegelglatten Canal Grande, wo ausser einem Vaporetto nur ein gelbes Ambulanzboot mit Sirene unterwegs ist, sieht man fast bis auf den Grund. In der Basilika beten Priester den Rosenkranz. Eine Studentin des Operngesangs übt heimlich ohne Maske in einer Kirche ihre Arie fürs Examen. Studenten mit Instrumenten auf dem Rücken gehen beim Musikkonservatorium Marcello Benedetto ein und aus. Hier geht der Unterricht trotz Pandemie weiter, aber mit Maske, und die Musik hallt aus den offenen Fenstern in den Hof runter. Zurück in den stillen Gassen quietschen die Seile, wenn jemand die Wäsche aufhängt. Ich wage mich immer weiter, bis zum Lido, wo ich zum ersten Mal nach Wochen die Maske runterziehe und frische Luft geniesse. Jeden Abend kehre ich mit einer gedrehten Perle zurück.
Zweimal in meiner Zeit kehrt Venedig von Zona rossa in Zona arrancia. Und am Ende sogar in gialla. Die Bars bieten Getränke über die Gasse an, und ich geniesse meinen ersten Capuccino mit Brioche, stehend auf einer Brücke. Ich schaffe sogar den Besuch in die Galleria dell’Accademia und ins Ca’ d’Oro. Statt mit einem fertigen Roman kehre ich nach sechs Monaten mit ein paar hundert Stunden Filmmaterial aus einem Venedig zurück, das ich so wohl nie mehr erleben werde. Das Weiterschreiben muss etwas warten. Der nächste Winter kommt bestimmt.
Ich bedanke mich herzlich bei der Stiftung für die Einladung und werde Venedig und den Palazzo Castelforte in bester Erinnerung behalten.

3. Juni 2021, Alice Schmid