Notizen aus dem Alltag in San Polo zwischen Juli 2024 und Januar 2025
Bei der Tombola des Festes von San Giacomo Benefica ziehe ich ein Los mit den
Nummern: 46, 59, 65, 66, 71. Es gibt Risotto und venezianische Volksmusik auf
diesem schönen Platz in unserer Nachbarschaft.
Ich backe einen Kastanienkuchen mit frischen Rosmarinzweigen, Pinienkernen und
einer Handvoll Sultaninen.
Die Nachbarin gegenüber hängt am Samstag frische Wäsche auf. Ich beginne ihr
Fenster und die Wäscheleine jeden Tag zu fotografieren. Ob da was draus wird? Am
ersten Tag ist auf dem Foto ein Kissenbezug mit Blumen zu sehen und eine
bestickte Tischdecke, die im Wind flattert.
Im Käseladen auf dem Mercato berät man mich zu venezianischen
Käsespezialitäten: Ubriaco, ein in Traubensaft gereifter Käse. Der kräftige Piave. Der
Monte Veronese mit einer feinen Kräuternote.
Die beiden Möwen, die jeden Morgen auf dem gegenüberliegend
en Dach von der
Küche aus gesehen an der Sonne sitzen, bekommen die Namen Chico und
Jonathan.
Auf dem kleinen Biomarkt, der jeden Donnerstag in der Nähe der Piazzale Roma
stattfindet, gibt es im Juli Honig aus der Barena, der nach Zitronen duftet.
Die Nachbarin hat frische Wäsche rausgehängt. Dieses Mal flattert ein schwarzer
Umhang mit Kapuze auf der Leine. Ich denke, sie ist vielleicht Sängerin in einem
Chor? Oder spielt in einem Theater?
Im August gibt es auf dem Gemüseschiff frische Borlottibohnen. Sie haben eine
schöne Maserung, die man am liebsten mit Aquarellfarben malen möchte. Mit einer
Handvoll Radicchio, Kräutern und einer Anchovis passen sie gut zu Pasta, empfiehlt
der Verkäufer auf dem Gemüseschiff.
Auf der Landspitze der Punta della Dogana stellt Pierre Huyghe aus. Der Ort scheint
zu schwanken, als ob die Spitze im Wasser schaukelt, unter dem Gewicht der
gedankenschweren Kunst.
Am Sonntag gehe ich zum Lido, spaziere an der Sonne dem Strand längs zum
ehrwürdigen Hotel Excelsior. Dort gibt es einen Espresso und die Frankfurter
Sonntagszeitung. Am frühen Abend geht’s mit dem Vaporetto zurück. Bei der kleinen
Bar „Grillo Parlante“ bei uns ums Eck trinken wir ein Gingerbeer und einen Spritz und
schauen den spielenden Kindern auf dem Platz zu.
Auf der Wäscheleine gegenüber hängen heute T-Shirts, Shorts und Socken. Ob die
Nachbarin für ihre Enkel wäscht? Oder für einen Nachbarn, dessen Waschmaschine
kaputt ist? Das Licht fällt schon etwas schräger auf die Hauswand und teilt mein Foto
in eine Sonnen- und eine Schattenseite.
Schon bald gibt es ein paar Rituale in meinem Alltag: täglich in der Kirche San
Pantalon eine Kerze anzünden und manchmal mit einem Euro das Licht für das
imposante Deckengemälde anstellen.
Dann die Besuche in der Chiesa Madonna dell’Orto mit dem beeindruckenden
Gemälde „Presentazione della Vergine al Tempio“ von Tintoretto. Und dem traurigen
leeren Holzrahmen, der einst ein Maria-mit-Jesus-Bild von Bellini umrahmte, bis es in
den neunziger Jahren aus der kleinen Kirche gestohlen wurde.
Unter der Woche gefällt es mir, die Menschen im Cafè Rosso am Campo Santa
Margherita zu beobachten. Gegenüber dem schmalen Häuschen, das einst ein
Cinema war. Und heute? Welches wohl der letzte Film war, der dort gezeigt worden
ist? Die Möwen lassen den Fischstand am Campo nicht aus den Augen. Beim Kiosk
am Platz kaufe ich alte Schwarzweiss-Postkarten und Briefmarken und schicke sie
an meine Freunde. Die Karten werden leider nie ankommen, weil die Briefkästen
vielleicht vergessen worden sind. Aber sie sind geschrieben worden.
Die Nachbarin hat heute eine bunte Bettdecke gewaschen und ihre Schuhe auf das
Fenstersims gestellt. Die Wäsche hängt schwer und flattert nicht. Sie tropft. Es
regnet.
Monte di Pietà in der Fondazione Prada, eine Ausstellung von Christoph Büchel.
Diese Erfahrung brennt sich in Körper und Kopf: Alle Gegenstände, egal aus welcher
Zeit, welcher Hand, aus welchem Material, ob neu oder alt: ihr Wert ist gleich.
Schwebend. Verhandelbar. Das Leben als Abbild eines Auktionshauses.
Hortus Redemptoris – der Klostergarten auf Giudecca wird wiederöffnet. Salbei und
Fenchel wachsen auf Kompostbeeten. Ein herbstliches Farbenmeer. Ein Blick, der
weit über die Lagune schweifen kann. Im Klostergebäude gibt es auch ein Café.
Besuch auf dem Friedhof San Michele – zum Grab von Brodsky. Von ihm das lustige
Bild, dass der Nebel im November in den Gassen Venedigs so dick ist, dass man
sich den Weg zurück nicht merken muss. Der Tunnel, den man beim Hinweg durch
den Nebel geschaffen hat, bleibt so lange stehen, bis man durch ihn hindurch wieder
zum Ausgangspunkt gefunden hat.
Ein Versuch Baccalà zuzubereiten. Nach 5 Tagen wässern stinkt der Fisch immer
noch so, dass ich die Rigatoni nur mit Pistazien, Zimt, Majoran und Basilikum
zubereite. Das Rezept muss zwischen den Zeilen irgendein ein streng gehütetes
Geheimnis enthalten.
Vermutlich hatte die Nachbarin gegenüber Besuch zum 1. Advent. Es hängen eine
weisse Tischdecke, 8 Servietten, Geschirrtücher und Topflappen auf der Leine.
Fondazione Giorgo Cini auf der Isola di San Giorgio Maggiore. Was für ein
beeindruckender Konzertsaal, eine atemberaubende Aussicht in die nächtliche
Bucht. Und das Konzert ein Vergnügen: Echos of Becoming, es spielt Canberk Ulaş
auf dem Duduk.
Im Dezember ein erstes Weihnachtskonzert: Das Orchester der Universität Ca‘
Foscari spielt Haydn, Bach, Poulenc, Vivaldi in der Chiesa di San Cassiano Venezia.
Es ist kalt auf den Bänken und einige tragen schon dick wattierte Mäntel.
In der Scuola Grande dei Carmini präsentiert das „Venice Music Project“ Händels
„Messiah“. Das Ensemble bittet vorab um Verständnis, wenn sie zwischendurch die
Vorführung kurz unterbrechen müssen: Ihre alten Instrumente sind mit Darmsaiten
bezogen und diese müssen öfters nachgestimmt werden.
Eine Erinnerung ans Gemüseschiff klebt auf der letzten Seite in meinem Notizbuch:
Die Nummer D 98 auf meinem letzten Warte-Coupon. Ich bin angestanden für einen
Arm voll Puntarelle, den wir mit Taleggio im Backofen zubereiten. Dazu einen coda di
rospo brasata. Mit Risotto. Als Dessert ein Käsekuchen nach dem Rezept aus
Harry’s Bar. Wir nehmen langsam Abschied.
Die Wäscheleine bleibt seit ein paar Tagen leer. Heute versuchte eine Taube darauf
Platz zu nehmen.
Am Schluss meines Aufenthaltes in San Polo werden es 150 Fotos sein, die durch
die Jahreszeiten, von Sommer bis Winter, die Wäscheleine meiner venezianischen
Nachbarin festhalten. Ihr selber bin ich nie begegnet.
“Der Gast soll die Möglichkeit haben, ohne Verpflichtungen in einer anderen
Umgebung Atem zu schöpfen“.
Der schönste Satz, im schönsten Brief, den ich je aus meinem Briefkasten gefischt
habe. Herzlichen Dank an die Forbergstiftung für diese lehrreiche und erfüllende Zeit,
die ich im Palazzo Castelforte verbringen durfte.