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Impression
Ausschnitte aus dem Buch „Die strengen Frauen von Rosa Salva“ , Verlag Wallstein

… (Seite 6/7)

Was für eine Überwältigung! Nachdem ich die Tür zur Wohnung aufgestossen hatte, blieb ich wie angenagelt stehen, öffnete den Mund und wollte etwas Passendes ausrufen, doch es fiel mir nichts ein, also schwieg ich, stellte die Koffer auf den Boden und ging mit halboffenem Mund – ich hatte vergessen, ihn wieder zu schliessen – quer durchs Entree zur Fensterfront, schaute über die Kanäle, die unten vor dem Haus aufeinandertreffen, und rührte mich nicht mehr. Dann kehrte ich zu den Koffern zurück, legte sie stumm auf einen Tisch, packte aus, räumte die Sachen in die Schränke, steckte den Laptop ein, setzte mich auf den Stuhl davor – und halte es nicht aus, hier sitzen zu bleiben und Dir zu schreiben. Muss sofort hinunter, hinaus.

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Gleich um die Ecke unten links ist ein Friseur. Durchs Schaufenster habe ich ihn arbeiten sehen, einen jungen Mann. Sein Name ist Valon. Von dem werde ich mir die Haare schneiden lassen. Er hat rabenschwarze Locken und ganz helle Haut. In seiner Kindheit hat er bestimmt als Zanzarotto gedient (ich habe gelesen, in Venedig würden blasse Knaben in Livree abends jeweils zu zweit in den geöffneten Fenstern der Paläste stehen, zu den Sälen hin livriert, auf der Kehrseite nackt, um mit ihrem süssen Blut die Stechmücken – die Zanzare – anzulocken und abzufangen; sogenannte Zanzarotti eben; Valon war mit Sicherheit so einer).

Höchstens zweihundert Meter habe ich geschafft, dann hob es mir die Füsse vom Boden, und ich begann zu schweben. Keine Sekunde zu viel werde ich hier in der Wohnung bleiben, auf dem Stuhl sitzend, vor dem Tisch! Wann immer möglich werde ich hinaus gehen – wo ich allerdings in der Gosse enden werde: Ein Glas Bier auf der Piazzetta kostete ... Ach, koste es, was es wolle, egal, ich kann nicht anders, ich muss sofort wieder runter und noch eins trinken gehen.
...


Zitat 2:

… (Seite 414)

Du fragst, ob Du vielleicht nicht doch lieber in sanftere Gefilde ziehen solltest? Unbedingt! Man wird dort anders. Allein die Verlangsamung des Alltags ... Das langsame Heranfahren der Vaporetti beispielsweise, die man von weitem schon sieht, wie sie die Anlegestelle rammen, wie eine Kuh, die sich mit dem Hintern im Stall Platz verschafft,
kraftvoll-zutraulich, dann steigt man ein, wird vom Rudergast am Arm gestützt, wenn man torkelt, das Schiff fährt langsam wieder an, die Leute reden miteinander, man hat dreiundzwanzig Sekunden verloren, weil ein alter Mann mir einstieg, man verliert seinetwegen weitere siebenundzwanzig Sekunden beim aussteigen – und hat dadurch unverhofft fünfzig Sekunden dazu gewonnen ... oder die Wege! Jeden Tag freute ich mich, von der Wohnung zum Vaporetto und zurück zu gehen. Wir hatten einen romantischen Weg entdeckt, an einem schmalen Kanal entlang. In Berlin kommen mir die Wege immer wie notwendige Übel vor. Wenn ich von der Wohnung zum Bus gehe kürze ich alles ab und renne fast, weil’s mir hier nie um die Wege geht (ich müsste ein buddhistischer Meister siebten Grades sein, um die Wege hier als Ziel wahrnehmen zu können). In Venedig konnte ich es kaum erwarten, was ich wohl sehen würde. Mal stand das Wasser im kleinen Kanal hoch, mal niedrig; im Dezember tauchten Vögel darin auf, die vorher gar nicht schwammen; dann kam ein nie gesehenes Boot gefahren mit einem Plastiksarg drauf, der Motor tuckerte tief; ein dicker Steuermann an der pinne hob grüssend die Hand, ich blieb stehen, senkte kurz das Haupt, verlor/gewann zwei Minuten usw.

Nur mit dem Singen, Malen und Dichten hören die meisten dort wohl auf. Aber wollen wir wirklich singen, dichten und malen?

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