Andata e Ritorno: Rueun-Venezia - Rueun,
25. / 26.12. 2021
«Es gibt nur 2 Arten von Städten : Venedig- und alle andern.»
Zurück, daheim bin ich wieder. Ich war weit weg. - war völlig dort, am neuen Ort. Venezia, Serenissima, Biberrepublik: Du hast Dir in meiner Memoria ein zeitloses Nest gebaut.
Gestern, mitten in der 2. Weihnachtsnacht angekommen in einem eiskalten Haus, spürbar, diese Kälte war alt. Alles so klein hier, so voll! Meine Pantoffeln aus Fell hatte ich drama-symbolisch in den letzten venezianischen Müllsack geworfen, da ich sie auf 200 qm durch-gelaufen hatte, während meiner 2 ½ Monaten gleiten über das erstaunlich schräge unter Denkmalschutz stehende Terrazzobodenuniversum des Palazzo Castelforte.
Die Koffer bleiben ungeöffnet, das Einheizen dauert, das Erwärmen der kalten Mauern braucht Zeit. Wie der alpine Mensch im 16. Jahrhundert, lege ich mich in ein kaltes Bett. Heute morgen läuft die Nase. Ich weiss, keine moderne C-Krankheit ist das, ich hab mich im eisigen Zimmer erkältetet.
Wäscheberge, Büchertürme, Blätterhaufen, Tagebücher, Skizzen, Quittungsmäppchen, Elektrokabelgewirr, Weihnachtspostgebirge, Gedankenknäuel, neue Bariton-Ukulele, Erinnerungsstücke. Stadtplan Venedig.
Ich befestige den «Fisch» - die Karte von Venedig, an der Wand. Wandere zufällig mit den Augen los. Ja, ich weiss, wo ich bin, da lief ich lang, bei den Zattere, am Meer in der Wintersonne ass ich pasta e fagioli, da erstand ich die weisse Pestmaske, da die Bruce Naumann Ausstellung, da trank ich den Altdamenapéro Cynar-Spriz mit Ulrike, da in San Pantalon warf ich regelmässig einen Euro ein, um staunend durch die Decke endlos in den Himmel aufzusteigen, Fumiani malte 24 Jahre daran, da das Gemüseboot, da die feiernden Lorbeerkranz-StudentInnen rund um Ca Foscari, da das Grab eines Bündner Zuckerbäckers aus Sevgein auf der «Toteninsel» San Michele, da mein Fischhändler neben dem ehemaligen Hauptquartier der kommunistischen Partei, heute Polizeiposten, und da, am Campo San Geremia biss mir eine Möve im freien Sturzflug von hinten meinen Cannolo aus der Hand, da ........
Hunderttausende von «da’s».
«Hier bin ich sowieso, schön ist es auch anderswo» - echot das Bonmot meines Vaters. Es ist kein Trost. Ein paar Akkorde auf meinem Flügel, dieselbe Melodie, die ich als Abschiedslied auf dem Ibach, dem angenehmen Flügel am Campo Castelforte gestern morgen gespielt hab, die Melodie bestehend aus der Summe sämtlicher Glockentöne im schallenden Mittagsgeläut der vielen Kirchen rund um Castelforte. Erstaunlich, hier mein Yamaha, durch alle Stummheit hindurch, ist nicht verstimmt, bei guter Laune sozusagen! Aber wie trocken der Raumklang in der Teppichstube, verglichen mit dem tragenden Hall im typisch venezianischen Portegio mit den drei Fensterbögen beidseits - hinaus zum weiten Himmel oder hin zum spannenden «Hinterhof». Die hungrigen Möven darben wegen der fehlenden Touristen. Sie stehen einzeln auf Kaminen, im Antennen-Dächermeer und observieren. Viele der vermeintlichen Schornsteine sind Trichter, welche das Regenwasser sammeln. Wasser! Hochwasser. Wasserstadt ohne Grundwasser.
Am ersten Tag mich verirrt in dem Labyrinth, wiedergefunden, verirrt. Beim Eindunkeln dann diesen Moment der Panik: Hier findest du nie mehr raus! Pure Angst. Und dann doch, wiedergefunden, trial and error! Ohne Blick ins Handy. Ehrensache!
Gedanke: Im Entdecken von Venedig, hab’ ich mich neu entdeckt. Im Wahrnehmen von all dem Neuen, mich auch neu erkennen können.
Und abends dann den Film «Wenn die Gondeln Trauer tragen» von Nicolas Roeg angeschaut und konnte es kaum fassen. Nun war ich zeitgleich im Film und in Realität am selben Ort! Unten beim Kanal stand dieselbe Laterne, an der vorbei Donald Sutherland 1972 auf der Suche nach der Tochter mehrmals den Campo Castelforte überquert!
Eine Fliege kriecht über den Arventisch, genau - das fiel mir auf, zwar Mückenstiche aber keine einzige Fliege gesehen in Venedig. Habe das manchmal gespenstisch irre Gelächter der Gabbiani im Ohr, am Tag und nachts, - hier nun Meislein, Rotkelchen, Specht, und andere zwitschernde Überwinternde im Garten. Ich fülle das Vogelhäuslein mit Samen und Kernen, Blick runter ins Dorf, menschenleere Strasse, nichts bewegt sich, nur der aufsteigende Rauch. In Venedig ist das heizen der Kamine verboten. Der offene Kamin am Campo ist zugemauert. Seit dem Brand der Fenice?
Und?
Und jetzt?
Ich wäre gern geblieben.
Die langen Spaziergänge durch Veneziens Geschichte, die Museums-Kirchen-Kunst-Palazzo- Besuche durch sämtliche (6) Sestieri haben mir meine Hüftschmerzen genommen. Venezia ist heilsam. Der Kanal-Geruch, intensiv, typisch, aber nie unangenehm. Am Meer. Der Himmel, die Himmel. Schnell wechselnde Wolkenbilder. Ergreifende Farben. Wetter- umschwung. Aqua Alta. Sirene. Mose. Nasse Füsse. Die Gezeiten beachten. Stürmische Winde. Starke Regen. Nebel dringt in die Calle, die Feuchtigkeit ins Gemäuer und in die Knochen der Einheimischen. «Incredibile, i Svizzeri stellen den Thermostat auf 20 Grad!» Meistens war jedoch schönes, gar sonniges Wetter. Und so wenig Touristen. Viele arbeitslose Gondoliere. Absichtlich nahm ich keine Gondel, darum muss ich ja sowieso wieder hin!
Der Canal Grande formt ein S wie meine Wirbelsäule, ist es ein Fragezeichen? Wie «alteingesessen eingeweiht» muss man wohl sein, um immer zu wissen, auf welcher Seite des Kanals man sich befindet, destra, sinistra? - ich weiss es bis heute nicht, es wechselt ständig, aber nach welchem Prinzip?
Hier steht nun so Einiges an; ich bin nicht parat. Lasst mir Zeit, ihr, die ihr schon mit den Hufen scharrt! Ich bin gemächlicher geworden im Kanal Labyrinth mit Brücken und Plätzen, sotoportegi, schmalen und noch schmäleren Gassen und Sackgassen.
Was ein Glück ist eine Stadt ohne Autos! Das schenkt neue Ohren, offeneres Hören. Was ein Glück, Venezia ohne Touristenhorden! Den Kindern zusehen, wie frei sie spielen, ihre Bälle knallen wild an die kostbaren Aussenfresken und geschützten Reliefs der Palazzi, che importa!
An meinen Sohlen klebt Venedig Staub von den Erkundungen durch die Biberrepublik (Ausdruck Goethes, der Venedig verabscheute) Ich mache einen Schritt und sehe deutlich den grauen Abdruck im Schnee, mein Profil.
Die letzten 2 Tage in Venedig ging ich kaum noch raus. Ich habe mir den Venedig Radius kleingeschrumpft um nicht zu brüsk «auf die Welt zu kommen» Hier wo ich jetzt bin und auch bleibe. Bis ich endlich wieder zurückkann in die einzige Stadt der Welt, die mir heute wirklich gefällt!
Falls ich schon mal gelebt habe, dann im 16. Jahrhundert, in Cannaregio, gleich um die Ecke von Tintorettos Atelier und einen Steinwurf von Tizians Werkstätten entfernt. Aus einem prunkvollen Garten hinter hohen Mauern hört man Tintorettos höhnisches Gelächter. Er hat sich gerächt dafür, dass Tizian ihm den Übernamen «der Kleckser» gab. Die Scuola Grande di San Rocco hatte beide sich rivalisiernden Meister angefragt, Vorschläge für die Ausstattung neuer Wand- und Deckenbilder der Scuola Grade zu unterbreiten. Tintoretto bat, man möge ihn über Nacht einschliessen, damit er sich «ein Bild» machen könne. Als Tizian anderntags zum Sitzungstermin in der Scuola Grande eintraf um die Räume zu besichtigen, hatte Tintoretto schon sämtliche Ideen direkt auf die Wände skizziert. Scuola Grande di San Rocco! Der Palazzo Castelforte gleich daneben war seinerzeit die Pension der Scuola gewesen, der Piano Nobile eventuell das Bordell? Bordelle waren kultivierte Salons. Kurtisaninnen waren gebildetet schöne geistreiche Frauen. Kurtisaninnen haben Tizian für Mariendarstellungen Modell gestanden.
Heute noch, im Februar 2022 schaue ich täglich auf die Karte, die jetzt in meiner Küche hängt. Oft streife ich zum Einschlafen durch die Calle, besuche in Gedanken verschiedene Orte. Wenn mein «Heimweh» zu arg wird, laufe ich mit Google Street View durch Venedig.
Doch doch - ich hab’ auch wie immer viel gearbeitet! Den Mix fertiggestellt des im Januar 2022 erschienen digitalen Liederkalenders «Chantinadas» mit 24 chanzuns des a capella Trios LA TRIADA. Via skype etliche Sitzungen zur Planung und Umsetzung der umfangreichen Retrospektive zu meiner musikalischen Arbeit 1990-2010 plus 2022. Texte verfasst, Leute kontaktiert, Dossiers geschrieben. Es wird ein Buch erscheinen mit 4 CDs, Texten, Linernotes, WeggefährtInnen-Quotes, mit zahlreichen Fotos aus «der Schatzkiste» im übrigen ist das aktuellste Pressefoto aufgenommen im Piano Nobile des Palazzo Castelforte!
Was für ein Glück diese Einladung der Forberg-Stiftung. Ich möchte der Fondazione Castelforte, den Stiftern, der Familie Forberg und Frau Marian Amstutz herzlich danke sagen für diese inspirierende Möglichkeit der Auszeit, für den wunderbaren, weiterhin Wirkung entfaltenden Einblick in die jahrhunderte andauernde Entwicklung Venedigs hin bis heute - und dass ich durch diesen Aufenthalt einen wimpernschlaglang an der grossen Geschichte Venedigs teilhaben konnte und die Serenissima seither ein Teil meiner Geschichte ist.
Grond engraziament, da cor
Corin Curschellas 2.2.2022
