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Venedig 10. Dezember 2017 – 15. April 2018

Das grösste Geschenk und der wahre Luxus dieses mehrmonatigen Aufenthalts in Venedig war die Zeit: Zeit, um die Stadt zu erkunden, Zeit, um in ihre Kunst und Kultur einzutauchen, Zeit, sich mit mir selbst zu beschäftigen und der Frage nachzugehen, was das Leben (noch) von mir will – oder ich von ihm. Und dies alles ohne äusseren Druck und Zwang. Dass für einmal kein konkretes Resultat erwartet wurde, empfand ich als besonders wohltuend. Nichts müssen, alles dürfen, einfach nur da sein, leben, nachdenken, schauen, geniessen – das war für mich der eigentliche Gewinn dieses Aufenthalts.
Da das Geschenk aus heiterem Himmel kam, konnte ich mir im Vorfeld überhaupt nicht vorstellen, wie ich diese vier Monate in Venedig gestalten würde. Ich wusste nur, dass ich Tagebuch führen und festhalten wollte, was ich gesehen, gedacht, erlebt hatte. Das habe ich getan: gewissenhaft, Tag für Tag. Drei Moleskin-Hefte sind vollgeschrieben. Wenn ich jetzt wieder darin lese, erlebe ich alles noch einmal: die Ankunft bei leichtem Schneeregen, die ersten etwas trüben und einsamen Tage in der grossen, noch unvertrauten Wohnung, das allmähliche, zaghafte Erkunden der näheren Umgebung, die zunehmende Vertrautheit und die Erfahrung, dass man sich in Venedig zwar verirren kann, dabei aber immer irgendwo ankommt, wenn auch vielleicht nicht dort, wo man ursprünglich hin wollte – ganz wie im richtigen Leben.
Mit wachsender Sicherheit und vor allem, seit mein Mann Kurt ebenfalls eingetroffen war, wurden die Streifzüge systematischer und zielgerichteter. Unser primäres Interesse galt der Kunst, der religiösen vor allem, aber das ist in Venedig ja meist ein und dasselbe, und so wechselten sich Kirchenbesichtigungen und Museumsbesuche ab, bis wir nach und nach die ganz Stadt erwandert und uns vertraut gemacht hatten. Später kamen die Inseln dazu, Torcello vor allem, und schliesslich umliegende Städte wie Triest, Padua, Treviso, Conegliano und einmal sogar Ravenna.
Auf unseren Wanderungen entdeckten wir das Venedig der schmalen Calle, spiegelnden Kanäle und weiten Campi. Wir sahen die Pracht und die Armut, den Verfall und den Luxus, das Venedig der Einheimischen und das der Fremden. Wir gingen und gingen, wir schauten und schauten, und manchmal sassen wir auch einfach nur da und beobachteten, was sich auf dieser grossen Bühne, genannt Venezia, gerade so zutrug. Wo Goldoni seine Szenerien und Longhi seine Sujets her hatten, ist uns nun völlig klar.
Mehr und mehr schärfte sich unser Blick aber auch für die gravierenden Probleme, die dieser Stadt zu schaffen machen: die fortschreitende Entvölkerung, die zunehmende Kommerz- ialisierung, die bedrohliche Vereinnahmung, um nicht zu sagen: Eroberung durch chinesische Händler und Touristen. Als Bewohner des wunderschönen Palazzo Castelforte befanden wir uns irgendwo dazwischen: keine echten Venezianer zwar, aber auch keine wirklichen Touristen mehr. Dass wir Venedig mit Respekt und Achtsamkeit zu begegnen hätten, brauchte uns nicht mehr eigens eingebläut zu werden. Wir fühlten uns in unserem Sestiere mehr und mehr heimisch. Dazu trugen auch die sonntäglichen Gottesdienstbesuche in der nahen Frari-Kirche das Ihre bei.
Wir haben Venedig in den vier Monaten unseres Aufenthalts lieb gewonnen, und wir sind dankbar, dass wir da sein durften. Wir haben die stille Zeit vor Weihnachten erlebt, den Trubel rund um den Carnevale, das Überhandnehmen der Touristen an Ostern. „Unser“ Venedig mussten wir dann je länger je mehr suchen gehen, aber wir haben es immer wieder gefunden: ganz in der Nähe auf dem Campiello Castelforte vor unserem Haus, aber auch weiter weg, an den Rändern der Stadt, etwa unten in Santa Marta, auf der Guidecca, in Cannaregio oben oder draussen in San Pietro di Castello, wo einst der Sitz des Patriarchen von Venedig war. Und immer wieder, trotz touristischem Hochbetrieb, auf dem Campo Santa Margherita, wo wir im „Caffè rosso“ so manchen Crodino getrunken und den spielenden Kindern und debattierenden Studenten zugeschaut haben.
Auf mich persönlich hatte die Stadt eine heilsame Wirkung. Sie wirkte entschleunigend auf mich. Venedig hat sein ganz eigenes Tempo. Es geht alles langsamer von statten als anderswo. Die Gondeln gleiten dahin, die Vaporetti tuckern, und nicht einmal die Motorboote fahren allzu schnell. Wirklich hetzen wie bei uns kann hier niemand, dazu sind die Gassen zu schmal, die Gänge zu verwinkelt. Das färbt auf einen ab. Ich begann zu schlendern statt zu laufen und entdeckte zum ersten Mal seit langem wieder, wie es ist, wenn man ohne ein bestimmtes Ziel unterwegs ist. Statt in ein Loch zu fallen oder hektisch zu werden, habe ich mich dem Rhythmus Venedigs hingegeben. Ich liess mir Zeit. Ich war einfach da und fühlte mich befreit.
Mein Wunsch wäre es, etwas von dieser Entspanntheit hinübernehmen zu können in meinen Schweizer Alltag: etwas weniger hektisch sein als bisher, der Nachdenklichkeit mehr Raum geben, kein schlechtes Gewissen haben, wenn einmal, rein äusserlich gesehen, nichts geschieht. Was nicht heissen soll, dass ich jetzt für den Rest meines Lebens die Hände in den Schoss legen und mich permanentem Müssiggang hingeben möchte. Wenn die Zeit reif ist, schreibe ich wieder – vielleicht sogar über Venedig.

Klara Obermüller, Männedorf Ende April